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Pressemitteilung Nr. 18 / 2023
Resolution für die 22. Städteversammlung am 26.09.2023: Haushaltslage der niedersächsischen Städte, Gemeinden u ndSamtgemeinden am Kipppunkt!

Verbandspolitische Rede des Präsidenten des Niedersächsischen Städtetages, Oberbürgermeister Frank Klingebiel

anlässlich der 22. Städteversammlung 2023 am 27.09.2023 in Hannover

- es gilt das gesprochene Wort -

Liebe Mitglieder und liebe Gäste,

„Mia san Mia!“, aber in Hochdeutsch! Die starke Stimme unserer niedersächsischen Städte, Gemeinden und Samtgemeinden!

Und an die Politprominenz aus Bund und Land füge ich hinzu: „auf die man hören sollte!“

Denn wir haben das Ohr an der Basis und bewegen uns hautnah am Puls der Zeit!

Liebe Gäste,

und was sagt uns der Puls der Zeit:

„Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage!“

Keine Angst! Nach dem ausgelassenen, feucht, fröhlichen Abend im Neuen Rathaus werde ich hier und heute nicht Hamlet von Williams Shakespeare rezitieren, auch wenn in unser von Social Media geprägten Informationswelt ein Blick zurück zu unseren Dichtern und Denkern sicher nicht schaden würde.

Ich zitiere diesen Ausspruch aus dem Monolog von Hamlet, weil er die dramatische Situation und die Rahmenbedingungen, die für unsere Kommunen von existenzieller Bedeutung sind, zutreffend beschreibt.

Kommunale Selbstverwaltung, sein oder nicht sein, das ist hier die Frage!

Lebendige und tolerante Stadtgesellschaften, sein oder nicht sein, das ist hier die Frage!

Für die niedersächsischen Kommunen sind die nächsten 2 Jahre Schicksalsjahre, in denen sich vor Ort beweisen wird, ob unser Staat weiter handlungsfähig bleibt, ob die Menschen weiter Vertrauen in unserer demokratisches Staatssystem haben und ob der soziale Frieden in unseren Stadtgesellschaften weiter Bestand haben wird.

Für mich gibt es eine einfache Faustformel: „Geht es unseren Kommunen gut, geht es automatisch auch Bund und Land gut!“

Und hier sind wir trotz eindringlicher Mahnungen und Warnungen der Kommunalen Spitzenverbände in den letzten Jahren deutlich in Schieflage geraten. Marcellus, der Freund von Hamlet, würde bei William Shakespeare sagen: „Etwas ist faul im Staate Dänemark!“

Die Verwerfungen, die inzwischen bei der Aufgabenerfüllung und Finanzierung der politischen Versprechungen von Bund und Land in den Kommunen und den Kommunalverwaltungen auftreten, sind einfach zu groß und aus kommunaler Sicht nicht mehr hinnehmbar. Der seit ewigen Zeiten stereotype Hinweis auf den Finanzierungssaldo zwischen Land und Kommunen ist überholt.

Die Städte und Gemeinden sind personell wie finanziell aufgrund immer neuer Staatsaufgaben am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt; die Räte können kaum noch gestalten, sondern müssen Mangel verwalten, die Stadtgesellschaften stehen vor ihrer Überforderung!

Um es drastisch zu formulieren:

-unsere kommunalen Haushalte schmieren fremdverschuldet schnell und dramatisch ab, weil wir strukturell chronisch unterfinanziert sind,

-unser kommunales Personal ist nach 8 Jahren Krisenmodus und dauerhafter Unterbesetzung infolge des Arbeitskräftemangels vor dem Ausbrennen,

-lange Schlangen vor unseren Bürgercentern, Wohngeldstellen und Ausländerbehörden,

-Hauptverwaltungsbeamte und Ratsmitglieder müssen bald entscheiden, welche Pflichtaufgaben überhaupt noch vor Ort mit welchem Standart wahrgenommen werden sollen und

-der soziale Frieden in den Stadtgesellschaften bröckelt.

Das alles ist nach 8 Jahren des Mahnens und Warnens kein Schreckensszenario in ferner Zukunft, sondern bittere Realität.

Wir vor Ort haben keine Zeit mehr, um über notwendige Änderungen zu reden. Die Änderungen und Unterstützungen müssen jetzt kommen!

Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem, das wir dringend beheben müssen!

Frei nach dem Schriftsteller und Sozialpolitiker Ferdinand Lassalle: „Das Umsetzen beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist!“ Und da sitzen wir, liebe Ministerin Daniela Behrens, in einem Boot!

Wir müssen den Menschen reinen Wein einschenken und sagen, was geht und was nicht geht. Wir dürfen keine Erwartungen wecken, die wir nicht erfüllen können. Bund, Länder und Kommunen müssen sich auf ein Memorandum bei der politischen Wunschliste verständigen, das die Kommunen auch sachgerecht und zeitnah erfüllen können und ihnen die dafür erforderlichen Ressourcen dauerhaft zur Verfügung stellen, nicht nur als Anschubfinanzierung! Deswegen bin ich Ihnen und unserem Ministerpräsidenten Stephan Weil für Ihre klaren Botschaften Richtung Bundesregierung in Sachen „Europäische Flüchtlingspolitik“ sehr dankbar.

Die aktuelle Entwicklung bei der Flüchtlingszuweisung besorgt mich sehr. Ich erinnere daran, dass die Städte, Gemeinden und Landkreise bereits Ende letzten Jahres bei der Aufnahme, Betreuung und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen am Limit waren und dies unmissverständlich in Berlin und Hannover deutlich gemacht haben. Sporthallen, Stadthallen, Messehallen und Jugendfreizeiteinrichtungen wurden zu Notunterkünften hergerichtet, Zeltstädte wurden aufgebaut. Das Land hat die Hannover Messe als Erstaufnahmeeinrichtung angemietet. Hier haben wir - die Kommunen und das Land - dem Bund in Windeseile den „Allerwertesten“ gerettet. Notwendige Fragen der Integration und des sozialen Miteinanders wurden vom Bund völlig ausgeblendet. Die Kommunen waren daher von den Flüchtlingsgipfeln mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Februar dieses Jahres und mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai diesen Jahres maßlos enttäuscht und haben immer und immer wieder gemahnt, dass es in der Flüchtlingspolitik ein weiter so nicht geben kann. Dies haben sogar die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen der Länder unisono beim Bundeskanzler unterstützt. Wir haben seit gut 1 Jahr eine Europäische Lösung zur Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen und Vertriebenen und eine vollständige Erstattung der Kosten für Unterbringung, Betreuung und Integration vom Bund vehement eingefordert. Passiert ist bisher konkret nichts. Im Gegenteil: der Bund macht sich bei der Flüchtlingsverteilung einen schlanken Fuß und lehnt auch noch die Übernahme der damit zusammenhängenden Kosten ab. Die 1 Milliarde €, die der Bundeskanzler im Mai 2023 versprochen hat, bedeuten für Niedersachsen ca. 95 Mio. € und sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wir erwarten, dass die Bundesregierung jetzt handelt und uns nachhaltig und dauerhaft unterstützt. Die Kommunen wollen helfen, viele sind aber am Limit angekommen und können nicht mehr.

Liebe Gäste,

ich möchte Ihnen nun erläutern, wie ich die Stimmung im Lande einschätze, die Lage der Kommunen bewerte und was ich von Bund und Land einfordere:

Zur Stimmung im Land gibt es eine aktuelle, und aus meiner Sicht sehr beachtenswerte, repräsentative Umfrage von policy matters im Auftrag der Körber-Stiftung aus Juni/Juli 2023 mit dem Titel „Demokratie in der Krise“.

Laut Umfrage haben demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit und faire Wahlen nach wie vor eine überragend hohe Bedeutung. Es zeigt sich aber ein deutlicher Rückgang von Vertrauen in den Staat und seine Institutionen: Mehr als 50% der Befragten hat ein weniger großes oder geringes Vertrauen in die Demokratie. Und 50 % der Befragten glauben nicht, dass Deutschland für die großen Transformationsaufgaben unserer Zeit gewappnet ist.

Und auch das finde ich sehr beachtenswert: 56% der Befragten glauben, dass wir angesichts der vielen Probleme im Land Politikerinnen und Politiker benötigen, die mehr Entscheidungskompetenzen und Durchsetzungswillen haben, um schnell und kompetent Entscheidungen fällen und umsetzen zu können.

Interessant ist schließlich die Einschätzung der Befragten zu social Media: 80% der Befragten sind der Auffassung, dass Hetze und Gewalt durch die sozialen Medien gefördert werden. 2/3 der Befragten sehen den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch soziale Medien immer mehr bedroht.

Und in die Stimmung bei unseren Mitgliedern, den Städten, Gemeinden und Samtgemeinden?

Es brodelt auch auf kommunaler Ebene.

Kurz vor der Städteversammlung hat unsere Geschäftsstelle eine Umfrage in der Mitgliedschaft zur Lage in den Kommunen durchgeführt – ohne Umfrageinstitut und ohne wissenschaftlichen Anspruch, aber mit folgenden Ergebnissen:

Die Aussage „Der Ton innerhalb der Gesellschaft wird rauer, polemischer und emotionaler“ bekommt 90 Prozent Zustimmung.

Die Bereitschaft der Bürgerschaft, eigene Ansprüche zurückzustellen oder negative Bescheide zu akzeptieren, ist teilweise nicht mehr vorhanden. Problematisch ist auch, dass die Informationen nicht über Tageszeitungen, sondern über soziale Medien aufgenommen werden. Das führt zu einer immer stärkeren Polarisierung in der Stadtgesellschaft.

Hauptverwaltungsbeamtinnen und Hauptverwaltungsbeamten erhalten Anfeindungen, Beleidigungen und Bedrohungen – mit zunehmender Tendenz. Nur die wenigsten Amtskolleginnen und Amtskollegen erhalten solche Botschaften nicht. Unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergeht es zunehmend genauso. Selbst vor den ehrenamtlichen Ratsmitgliedern machen diese Hasstiraden gerade in Sozialen Medien keinen Halt.

Unsere Hauptverwaltungsbeamtinnen und -beamten machen sich nahezu alle Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und um unsere lokale Demokratie – gerade auch in Bezug auf das Interesse und der Mitarbeit in der Kommunalpolitik.

Deshalb fordere ich:

1)         dass unser Ministerpräsident Stephan Weil ein Aktionsbündnis unter der Leitung der Landesregierung „Unser Rathaus – ein Ort des respektvollen und toleranten Zusammenkommens“ ins Leben ruft und

2)         die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte mit aller Härte gegen Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt in unseren Rathäusern, insbesondere gegen Mandatsträger und Mandatsträgerinnen, vorgehen.

Liebe Gäste,

von der Stimmung zur Lage in den Kommunen: Wie sieht es aktuell aus bei unseren Mitgliedern, den Städten, Gemeinden und Samtgemeinden?

Auch hierzu haben wir Umfragen durchgeführt: zur finanziellen sowie zur organisatorischen und personellen Lage. Die Ergebnisse sind leider gleichermaßen ernüchternd wie erschütternd:

Zur finanziellen Lage: Die kommunale Landschaft ist hier seit Jahren sehr heterogen; das wissen wir alle. Aber bei der ganz überwiegenden Mehrzahl unserer Mitglieder wird es zunehmend fremdverursacht kritisch. Unsere Umfrage zu den Haushaltsplanungen für dieses Jahr, also für 2023 war hinsichtlich der Gesamtfehlbedarfe schon besorgniserregend.

Die Planungen für die kommunalen Haushalte 2024 bis 2027 beschreiben allerdings ein noch dramatisches, bei einigen Großstädten wie Salzgitter sogar düsteres Bild: von 47 Rückmeldungen erwarten nur zwei Kommunen ein positives Ergebnis, alle anderen 45 Kommunen erwarten Fehlbedarfe in Millionenhöhe - 31 im einstelligen Millionenbereich, 11 im zweistelligen Millionenbereich und 3 sogar im dreistelligen Millionenbereich, Tendenz in der Finanzplanung steigend. Die auch von unserem Ministerpräsidenten Stephan Weil als ehemaligen Stadtkämmerer von Hannover immer wieder „beschworenen“ Finanzpuffer unserer Kämmerer gibt es schon lange nicht mehr. Wir sind mit unseren Haushalten auf Naht genäht.

Wir werden von der Kommunalaufsicht im Innenministerium und in den Landkreisen aktuell gedrängt, in unseren Städten, Gemeinden und Samtgemeinden über Haushaltssicherungskonzepte und Steuererhöhungen, insb. bei der Grundsteuer, politisch nachzudenken, obwohl Bund und Land diese desaströse Finanzentwicklung verursacht haben. Bund und Land erdrücken die Kommunen mit immer mehr staatlichen Aufgaben und Rechtsansprüche der Bürgerschaft, ohne eine auskömmliche und nachhaltige Finanzierung sicherzustellen.

Das, liebe Ministerin Daniela Behrens, geht gar nicht! Damit muss jetzt Schluss sein!

Sonst droht auch in Niedersachsen der Fall „Ortsgemeinde Freisbach“ (Rheinland-Pfalz). Dort sind Rat und Bürgermeister kürzlich mit Verweis auf die Finanzpolitik des Bundes und des Landes Rheinland-Pfalz geschlossen zurückgetreten.

Wir sind auch in Niedersachsen nicht nur finanziell – dort aber eben auch - am Kipppunkt! Darauf haben wir in unserer Resolution, die wir gestern in unserer internen Städteversammlung beschlossen haben, deutlich hingewiesen.

Deshalb fordere ich,

1)         dass ein gemeinsames Entschuldungsprogramm des Bundes und des Landes aufgelegt wird, um unseren verfassungsgemäßen Auftrag der gleichwertigen Lebensbedingungen im Land auch umsetzen und die inzwischen weit offene Schere zwischen armen und reichen Kommunen schließen zu können,

2)         dass eine Veränderung der Finanzierungsbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen erfolgt mit dem Ziel, auf kommunaler Ebene eine dauerhafte und auskömmliche Finanzausstattung sicherstellen zu können. Die seit Jahren bestehende strukturelle Unterfinanzierung vieler Kommunen und die bloße Anschubfinanzierung für politische Wohltaten des Bundes und des Landes müssen beseitigt werden.

3)         dass Bund und Land den Kommunen keine neuen Aufgaben mehr übertragen dürfen und können, wenn diese nicht dauerhaft auskömmlich finanziert werden und diese neuen Aufgaben organisatorisch und personell nicht in den Kommunen abgebildet werden können.

4)         dass das Konnexitätsprinzip strikt eingehalten wird. Ein „Aus der Verantwortung stehlen“, wie es Bund und Land aktuell bei der Finanzierung des Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung machen, darf es für Bund und Land nicht mehr geben und auch nicht geben können. Statt den Rechtsanspruch in den Schulgesetzen der Länder zu verankern, ist er im Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes festgeschrieben worden mit der Folge, dass keine Konnexität vorliegen soll. Und: unsere aktuelle Forderung nach 50 Mio. € jährlich für Personalkosten in den Bereichen Wohngeld, Jugendhilfe und Betreuungsrecht ist bisher geräuschlos verhallt. Die Krankenhäuser in Niedersachsen erhalten noch immer keine Unterstützung durch das Land; weder in Form von Zuschüssen noch in Form von Krediten.

5)         dass die Steuerverbundquote von derzeit 15,5 % mindestens um 2 % - Punkte erhöht wird,

6)         dass die kleinteilige „Förderitis“ aufgehoben wird und diese Fördermittel in eine gesonderte, pauschalierte und schlüsselmäßige Mittelverteilung ggf. mit politischer Zielvorgabe des Bundes und des Landes oder in den KFA überführt werden und

7)         dass die Kommunalaufsicht uns im Haushaltsgenehmigungsverfahren nicht gängelt, sondern uns „Beinfreiheit“ bei der Erfüllung unserer wahnsinnigen Aufgabenlast gibt. Zum einen ist der Haushaltskonsolidierungserlass in diesen Krisenzeiten nicht mehr zeitgemäß und muss vorübergehend außer Kraft gesetzt werden, zum anderen müssen die Vorgaben zum Konzernkredit in praxisgerechter Weise im NKomVG verstetigt werden.

8)         dass ein wirksamer Standardabbau kurzfristig und befristet realisiert wird (Beispiel: Trägerwechsel Kita, NBank).

Und die personelle und organisatorische Lage bei unseren Mitgliedern? Wie steht es aktuell um die Verwaltungskraft und Leistungsfähigkeit der Städte, Gemeinden und Samtgemeinden?

Wir haben immer weniger Personal. Die Gewerkschaften sprechen von einem „Personalkollaps“ im öffentlichen Dienst. Bis 2030 gehen etwa 1,3 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den Ruhestand. Schon heute beklagen einige Städte, dass 7 bis 9 Prozent ihrer Stellen derzeit nicht besetzt sind. In meiner Stadt Salzgitter sind bei rd. 1.800 Bediensteten dauerhaft ca. 100 Stellen nicht besetzt. Perspektive: mit Blick auf den Arbeitskräftemangel eher düster! Die Verwaltungskraft und Leistungsfähigkeit unserer Kommunalverwaltungen droht zu kippen! Schon allein deshalb verbieten sich weitere Aufgabenzuweisungen an die Kommunen.

Liebe Gäste,

vor diesem Hintergrund machen sich viele Hauptverwaltungsbeamtinnen und Hauptverwaltungsbeamte aktuell große Sorgen.

Wie soll diese Kommunalwahlperiode weitergehen? Bis jetzt waren sie vorwiegend mit Krisenmanagement wie z.B. bei der Coronalage, bei der Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine und anderen Staaten oder bei der Energiekrise beschäftigt. Daneben wird ein „Füllhorn“ an neuen staatlichen Aufgaben über Ihnen ausgekippt: Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter, kommunale Wärmeplanung und kommunale Klimaschutzkonzepte, mehr Zivilschutz oder Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes.

Wie soll das alles erledigt werden? Und welches Personal soll es machen?

Und was ist mit den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft? Was ist mit Sport oder Kultur?

Diese Themen laufen nach meiner Einschätzung als freiwillige Aufgaben vielerorts „so mit“. Sie stehen beim Haushaltssicherungskonzept natürlich ganz oben auf der Streichliste der Kommunalaufsicht. Daher wird es für die Kommunalpolitik zunehmend unmöglich, eigene Gestaltungsspielräume auszufüllen; jedenfalls werden die Spielräume immer kleiner und enger. Viele HVB`s und Ratsmitglieder machen sich zu Recht Sorgen um den Zusammenhalt in ihren örtlichen Gemeinschaften und um reine Mangelverwaltung.

Und dies zeigt aus meiner Sicht noch etwas: Die aktuelle Amtszeit für Hauptverwaltungsbeamtinnen und Hauptverwaltungsbeamte ist zu kurz; 5 Jahre reichen nicht. Vielen Dank an unseren Ministerpräsidenten Stephan Weil und auch an Sie, Frau Ministerin Daniela Behrens! Vielen Dank, dass Sie das erkannt haben und nun politisch für eine Verlängerung der Amtszeiten auf 7,5 Jahre eintreten.

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bitte in Richtung Bündnis 90/Die Grünen in Niedersachsen richten. Wir nehmen bei Ihnen immer noch eine gewisse Reserviertheit bei diesem Thema wahr. Wir bitten Sie heute noch einmal, einer Verlängerung der Amtszeiten ihren politischen Segen zu geben. Einen intensiven und guten Austausch hatten wir ja am vergangenen Donnerstag mit ihren Fraktionsvorsitzenden Anne Kura und Detlev Schulz-Hendel und ihrer innenpolitischen Sprecherin Nadja Weippert.

Liebe Gäste,

was ist Grund für diese Stimmung und diese Lage in unserem Land? Aus meiner Sicht ist es der überforderte Staat. Ein Staat, der sich zunächst einmal selbst überfordert und zusätzlich durch die aktuelle weltpolitische Lage überfordert wird.

Ich möchte grundsätzlich erst einmal klarstellen, dass ich den Staat immer als Gesamtheit sehe, auch wenn ich gleich sehr differenziert auf seine Ebenen, also Bund, Land und Kommunen zu sprechen komme. Warum sage ich das so ausdrücklich? Weil wir viel stärker die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger einnehmen müssen. Diese unterscheiden nämlich nicht zwischen den staatlichen Ebenen; sie können sie oft auch gar nicht differenzieren. Sie haben aber ein sehr feines Gespür dafür, ob der Staat funktioniert, überfordert ist, oder gar versagt. Diese Gesamtsicht, diesen Blick auf´s Ganze sollten die politisch Verantwortlichen immer vor Augen haben.

Und diese Gesamtsicht setzt erst einmal voraus, dass man auf den höheren Ebenen, also auf Bundes- und Landesebene, wieder vom Ende her denkt. Und am Ende muss all das, was man dort beschließt, auf kommunaler Ebene umgesetzt werden. Das scheint mir, insbesondere auf Bundesebene, derzeit völlig aus dem Blick geraten zu sein. Man gefällt sich dort vielmehr in Ankündigungspolitik und Zielgesetzgebung. Immer neue Versprechen, die die Kommunen am Ende erfüllen müssen. Und immer ambitioniertere Ziele, bspw. in den Bereichen Ganztagsbetreuung, Klimaschutz oder erneuerbare Energien die wir am Ende in vielen Kommunen mit Sicherheit „reißen“ werden. Und zwar nicht, weil wir böswillig wären, sondern weil wir es mit unseren finanziellen und personellen Ressourcen, also mit der uns zur Verfügung stehenden Verwaltungskraft, gar nicht schaffen können. Ich hatte es ja soeben ausführlich dargestellt.

Damit bin ich dann wieder beim Thema Finanzen: Wir haben mittlerweile eine Vielzahl von gemeinschaftlich zu finanzierenden Aufgaben, bei denen sich Bund und Land nicht hinreichend finanziell engagieren oder sogar aus der Finanzierungsverantwortung zurückziehen. Was wir leider auch immer öfter erleben ist die sog. „Anschubfinanzierung“ und das zudem oft noch über sehr bürokratische Förderprogramme. Das Ganze begleitet von sehr aufwendigen Vergabeverfahren.

Einige Beispiele:

1)         Investitionen in den quantitativen Ausbau von Kindertagesstätten: Die Förderprogramme von Bund und Land – RAT V sowie IKiGa und RIT - sind allesamt vollständig belegt. Anschlussförderungen sind aktuell nicht in Sicht. Im Ergebnis finanzieren die Kommunen jetzt jede Baumaßnahme in Kindertagesstätten vollständig aus ihrem eigenen Etat.

2)         Digitalpakt Schule: Auch hier warten wir nach wie vor auf eine Anschlussfinanzierung des Bundes. Es scheint aktuell nicht so, dass dort noch etwas käme. Bundes- und Landespolitiker werden aber leider nicht müde, den Menschen immer noch einzureden, dass es ganz toll wäre, wenn die Kinder schon in der Grundschule ein Laptop hätten und alle Schulen endlich WLan haben müssen. Wo diese Erwartungshaltung dann abgeladen wird, ist natürlich auch klar.

3)         Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter: Auch hier werden die Kommunen auf viel Geld sitzen bleiben. Der Bund hat ein Investitionsprogramm in Höhe von bundesweit 2,75 Mrd. € auf die Beine gestellt, von dem ca. 278 Mio. € in Niedersachsen ankommen. Die Kofinanzierung, die sich Land und Kommunen hälftig teilen beträgt 110 Mio. €. Insgesamt reden wir also über ca. 378 Mio. €. Bei rd. 285.000 Grundschülern in Niedersachsen sprechen wird dann über rd. 1.300 € je Schülerin und Schüler. Damit sind die erforderlichen Investitionsbedarfe in den Ganztagsausbau natürlich nicht annähernd gedeckt.

4)         Beim Breitbandausbau hat sich das Land aus der Kofinanzierung des Bundesprogramms herausgezogen; auf den letzten Metern sozusagen, denn wir sind fast am Ziel mit der flächendeckenden Breitbandversorgung in Niedersachsen. Dies stellt einen maximalen Vertrauensschaden gerade für die Menschen im ländlichen Raum dar. Es fehlen jetzt mittelfristig 650 Mio. Euro, die notwendig sind, um die doppelt so hohen Bundesmittel abzurufen. Und nun sollen die Kommunen wieder in die Bresche springen.

5)         Der Öffentliche Nahverkehr ist als Teil der Daseinsfürsorge auf eine ausreichende Finanzierung durch die öffentliche Hand angewiesen. Das Deutschlandticket schafft hohe Erwartungen – auch hinsichtlich bestehender Vereinbarungen zum Beispiel für Schüler- und Sozialtickets – und ist nur vorläufig bis 2025 von Bund und Ländern finanziert. Zusätzliche Regionalisierungsmittel fließen fast ausschließlich in den Schienenverkehr. Der lokale und regionale Busverkehr ist erheblich unterfinanziert. Hier müssen Bund und Länder eine dauerhafte Finanzierung ab 2026 sicherstellen.

Liebe Gäste,

ich könnte diese Liste noch lange fortsetzen über die Krankenhausfinanzierung oder die Unterbringung und die Integration Geflüchteter. Darauf möchte ich allerdings aus Zeitgründen verzichten.

Lediglich eins möchte ich hierzu feststellen: Auch die kommunale Ebene hat eine Schuldenbremse und die heißt „Kommunalaufsicht“.

Aktuell gibt es sogar wieder direkte Angriffe auf die kommunale Finanzausstattung - Stichwort Wachstumschancengesetz des Bundes. Diese Regelung würde zu Steuerausfällen auf der kommunalen Ebene von jährlich bis zu 3,3 Mrd. Euro, davon jährlich rund 2,9 Mrd. Euro bei der Gewerbesteuer, führen. Für solche Steuergeschenke auf Kosten der Kommunen ist derzeit kein Raum. Wir erwarten hier ein klares Veto unserer Landesregierung im Bundesrat, egal mit welchen Wohltaten für die Länder dieser Angriff vom Bund auch verbunden wird, um die Zustimmung im Bundesrat sicherzustellen.

Liebe Gäste,

allein das alles wirft kein gutes Bild auf unseren Staat. Denn die Bürgerinnen und Bürger nehmen sehr wohl wahr, dass den vollmundigen Ankündigungen keine, oder lange keine Taten folgen. Sie nehmen wahr, dass der Staat überfordert ist bei der Umsetzung der vielen Versprechen: Finanziell, organisatorisch und personell. Und sie nehmen darüber hinaus wahr, dass die bestehende Infrastruktur und die bestehenden Strukturen staatlicher Daseinsvorsorge längst nicht mehr funktionieren.  Sie erleben es ja täglich: Wenn sie einen Termin beim Arzt haben möchten, wenn Sie Ihre Kinder aus der KiTa abholen müssen, weil die Gruppe mal wieder schließen muss, wenn sie den ÖPNV nutzen oder wenn sie über unser Landes- und Bundesstraßen fahren.

Liebe Gäste,

der überforderte Staat: Das ist natürlich kein Begriff, den ich geprägt hätte, sondern ein Buch das zwei sehr bedeutende Politik- und Verwaltungswissenschaftler geschrieben haben. Prof. Dr. Dr. Thomas Ellwein und Prof. Dr. Jens Hesse. Das Buch ist von 1994 und beschreibt die Überforderung des deutschen Staates im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung und europäischen Integration.

Die Autoren geben Politik in Krisenzeiten wie diesen einen sehr aktuellen Rat, der da lautet: „Politische Führung muss sich danach nicht nur mit dem auseinandersetzen, was Politik soll, vielmehr und vor allem klären, was Politik kann. Sie darf, was sie in selbstzerstörerischer Lust aber heute tut, Erwartungen nicht nur wecken und schüren, muss sie vielmehr auch begrenzen und dabei das Dringliche in den Vordergrund stellen. Das geht weit über die angesichts von Haushaltsschwierigkeiten modische Staats- und Verwaltungsvereinfachung hinaus. Nicht 'weniger Staat' oder ein 'schlanker Staat' sind das Gebot der Krise, sondern ein Staat, dessen Bürger und Repräsentanten wissen, was er wirklich vermag und tun muss.“

Was gibt es dazu noch zu sagen?

Wir müssen ehrlich sein. Wir brauchen ein klares Erwartungsmanagement. Denn nur so werden wir die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger nicht fortwährend enttäuschen.

Liebe Gäste,

nun werden viele von Ihnen sagen: Ich wusste ja schon immer, dass der Klingebiel ein Träumer ist.

Und ich sage Ihnen: „ja, ein bisschen bin ich das“. Das macht mich auch ein Stück weit aus.

Eins meiner Lieblingslieder ist übrigens: Imagine von John Lennon! …….

You may say, I`m a dreamer, but I`m not the only one!

Wir alle müssen jetzt vor Ort in den Städten, Gemeinden und Samtgemeinden zeigen, dass der Staat funktioniert!

Liebe Gäste

am Ende sind das keine echten Neuigkeiten. Denn die Thematik des überforderten Staates begleitet uns, wenn man allein auf das genannte Buch schaut, bereits seit mindestens 30 Jahren. Aber noch nie war das Problem so virulent wie heute.

Ich glaube, wir ahnen alle, dass wir, wenn wir diese Probleme nicht schnell anpacken und gemeinsam lösen, mit unserer Demokratie, wie wir sie heute schätzen und leben und die viele, die hier heute sitzen auch repräsentieren, auf ganz dünnes Eis geraten werden.

Lassen Sie uns alle daran mitwirken, jede und jeder wo und so gut sie oder er kann, dass die Überforderung unseres Staates nachlässt, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat, seine Institutionen und Repräsentanten wieder wächst und wir so unsere Demokratie wieder sichern und bewahren. Um nicht weniger geht es jetzt!

Und da ich ein Grundoptimist bin, schließe ich mit einer Liedzeile aus dem Film „Life of Brian“ von Monty Python:

„Always look on the bright side of life!“

Vielen Dank und jetzt „Film ab!“

Anlage: Resolution

27.09.2023

Ansprechpartner:

Dr. Jan Arning, Mobil: 0172 / 53975-16, E-Mail: arning@nst.de

Stefan Wittkop, Mobil: 0172 / 53975-13, E-Mail: wittkop@nst.de



Dokumente:

Pressemitteilung Nr. 18 / 2023 (PDF, 226 kB)


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